1982 verschlug es mich zufällig zum ersten Mal auf eine Alp. Ich besuchte damals befreundete Schafhirten auf der Niwenalp im Wallis und blieb hängen. Erst 27 Sömmer später war dieses Kapitel für’s Erste ausgelebt.
Zeitungsartikel aus der schweizerischen Wochenzeitung WOZ aus dem Jahre 2004:
Zwischen Himmel, Kuh und Käse
Von Esther Banz (Text) und Trix Niederau (Fotos)
Der Text ist auf Papier gedruckt und mit Bostitch an die dunkle Holzwand im Innern der Alphütte geheftet. Jahre muss es her sein, dass jemand die Seite aus dem alternativen Anzeigenblättchen “A-Bulletin” herausgerissen hat. Sie ist gewellt, vergilbt und wirkt vergessen.
Die Zeilen, die der deutsche Dichter Wilhelm Heinse im Jahre 1780 nach einem Besuch in den Bergen geschrieben hat, lauten so: “Was ich gesehen und gehört und erfahren habe, lässt sich mit keiner Zunge aussprechen und mit keiner Feder beschreiben. Ich habe den Anfang und das Ende der Welt gesehen, und zuerst alle Dinge in ihrem rechten Licht betrachtet; ich bin mit Entzücken in die innerste, geheimste Harmonie der Wesen eingedrungen, und Herz und Geist und alle Sinne haben sich bei mir in Wonne gebadet.”
Wonne? Romantik? Genau so stellen wir uns das vor. Absolute Abgeschiedenheit. Keine polyphonen Klingeltöne, keine Debatten über die Rechtschreibreform, keine schwerwiegenden Entscheidungen:”Bifidus- oder Bio-Joghurt?”, “Pariser mit oder ohne Noppen?”, “heute joggen oder schwimmen?”, keine Postomaten, die kein Geld ausspucken. Ein Leben wie zu Gotthelfs Zeiten. Ohne TV. Nur die Natur. Die Natur, die Kühe, vielleicht noch andere Viecher. Selbst gebackenes Brot. Milch aus dem Euter von Rosi und Käse. Viel Käse.
Vom Giw oberhalb Visperterminen dauert die Wanderung eineinhalb Stunden. Rauf auf den Gebidumpass und dann hinter dem Berg alles runter bis zum Bach. Dann nochmals rauf. Es ist früher Abend, als wir den Treffpunkt erreichen, die Alphütten mit den grünen Dächern. Wir sind hierher gekommen, weil wir Menschen treffen wollen, die den Sommer auf der Alp verbringen.
Über 20 000 gibt es von ihnen, rund 8000 Alpen werden in der Schweiz noch bewirtschaftet, die meisten von Bauern. Die restlichen von MasochistInnen.
Wir befinden uns knapp unter der Baumgrenze, also auf nicht ganz 1700 Metern über Meer. Die Sonne brütet, Schweine stehen lethargisch um einen Steintrog herum, weit und breit kein Mensch.
Aber der Chef wird bald auftauchen. Der Chef, der heisst Christoph Seiffert und wohnt neun Monate im Jahr in Winterthur. Immer eigentlich, ausser im Sommer. Seit achtzehn Jahren schon verbringt er den im Nanztal.
Chrigel, wie ihn alle nennen, schleicht sich nicht von hinten an. Sein Kommen ist ab dem Moment hörbar, in dem er einen halben Kilometer weiter oben den Motor seines Pick-up-Traktors anwirft. Es dauert dann doch beinahe zehn Minuten, bis er das orange Metallgefährt über den steilen Schotterweg gelotst und es vor der Hütte parkiert hat. Hier, wo eine kompakte Holzhütte neben einer langen, schmalen steht, muss er noch einmal an diesem Tag den Käse wenden. Der letzte Kraftakt vor dem Nachtessen. Hier unten befinden sich die Käserei, der Käsekeller und die einzige Toilette mit Spiegel. Drei weitere Hütten ruhen einsam weiter oben, weiter hinten und weiter obenhinten in dem engen Hochtal, das eine Sonnen- und eine Schattenseite hat. Die Hütten stehen auf der Sonnenseite, natürlich.
Es ist noch immer hell, als Chrigel erneut den Motor seines orangen Lärmmonsters anlässt und wir im Schritttempo den steilen Hang hinaufdröhnen. Kurz nach den letzten Bäumen noch eine letzte Kurve, dann ein begrastes Bödeli, Holzdächer, vergilbte tibetische Wimpel, die vor blauem Himmel tanzen. Vor der Hütte sechs Erwachsene und zwei Kinder. Fast alle sind nur zu Besuch da.
Zwei Stunden in Trance
Doris‘ Schlafsack liegt auf dem Matratzenlager in dem Raum, der zugleich Küche und Essraum ist. Sie ist die einzige Frau im Team und das erste Mal auf einer Alp. Den Job fand sie über die Stellenbörse auf www.zalp.ch. Sie ist aus Wien angereist, bald kommt ihr Freund sie besuchen.
Das ist gut, denn Doris geht es schlecht. “Ich weiss nicht, wie ich es geschafft habe, die Kühe von der Weide zu holen”, erzählt sie benommen. “Den ganzen Weg da rauf, die Tiere zusammen- und herunter zum Stall treiben… das waren zwei Stunden in Trance.” Chrigel, auf den Zustand seiner Gehilfin aufmerksam gemacht, erlöst sie vom abendlichen Melkdienst. Zwei Männer im Stall, das muss für einmal gehen. Morgen wird Doris wieder wie alle andern um vier Uhr aufstehen, Kaffee aufsetzen, Stallklamotten überziehen, Kühe zusammentreiben, den Melkstuhl ums Füdli schnüren, melken, melken, melken, Milchkannen hochstemmen, Milch umgiessen, Melkgeschirr waschen und dann wieder mit den Kühen dem begrasten und bekräuterten und beblumten Hang entlang weit hinauf- und hinüberstiefeln – und dann alles wieder retour. Dann kochen oder sich bekochen lassen, vielleicht eine kleine Pause, vielleicht in der Bratpfanne ein Brot backen, für den nächsten Morgen. Und nachmittags um drei wieder in die Stiefel, in den Hang, in die Vollen.
Magere Städterinnen eignen sich
Doris, Studienabgängerin in Agronomie, wird die Schweizer Alpen für immer hasslieben. Thomas aus dem Kanton Zürich, ehemals Lehrer, heute Computerfachmann, wird vor allem die Bakterienkulturen hasslieben. Und das, was sie gemeinsam mit ihm aus der Milch machen: den Käse. Mit den Laibern verbringt er Stunden. Er hievt und wendet sie mehrmals täglich, er badet sie in Salz und reibt sie, täglich, mit Bakterien ein. Für Letzteres steht er Stunden im feuchten, schummrigen Käsekeller.
Alp Nanztal: 40 Kühe, davon 35 mit Kälbern im Leib, eine Käse, hergestellt aus den über 1000 Litern Milch, die den Kühen zwischen Juni und September am frühen Morgen und am frühen Abend aus den Eutern gezapft werden. Zu Beginn der Saison gibt die Kuh am meisten Milch, also gibts auch am meisten zu tun für Chrigel, Doris, Thomas und den Texaner Marcus, der nach 9/11 mit seinem Surfbrett und zwei Skateboards via Amsterdam in Brig gestrandet ist. Marcus kann melken und Holz hacken, und später am Abend wird er die Geschichte von den Menschen erzählen, die einst im Nanztal lebten und sich des Christentums zu erwehren wussten. Lange ist’s her, im Nanztal ist heute niemand mehr sesshaft. Die vier StädterInnen haben fast das ganze Tal, die Hänge, die Sicht, die Dunkelheit, die Sterne für sich. Morgens werfen sie um vier den Generator an, und siebzehn anstrengende Stunden später verschwinden sie wieder im Thermoschlafsack. Nur zwei weitere, deutsche Älpler gibt es noch, deren Milch sie ebenfalls verkäsen.
Wer nicht gelernt hat, auf die Zähne an beissen, würde schon nach wenigen Tagen in aller Eile den Rucksack packen und ins Tal hinunterflüchten. So ist es auch passiert, hier auf Chrigels Alp. “Einer der Zusennen war schon nach ein paar Tagen wieder weg“, erzählt Chrigel. Aber das sei nichts Aussergewöhnliches. „Wer mit romantischen Vorstellungen zur Alp geht, kommt schnell auf die Welt.“
Das muss stimmen. Immerhin sagen alle das Gleiche, egal ob sie im Bündnerland, im Wallis, in der Ostschweiz oder im Berner Oberland einen Sommer lang Alpmeisterin, Zusenn oder Hirtin waren. Kaspar Schuler, selber erfahrener Senn und heute Greenpeace-Geschäftsleiter, schreibt im „Handbuch Alp“: Wer sich überlegt z’Alp zu gehen, sucht etwas. Hoffentlich Arbeit. Es wartet eine dreimonatige, knapp bezahlte und sehr anstrengende Saisonstelle.“ Und weiter: „Wen die Alparbeit lockt, muss eine unentwurzelbar bodenständige Frau oder ein stierennackiger hünenhafter Mann sein. (…) Auch magere Städterinnen eignen sich heutzutage, sofern sie zäh und ausdauernd sind.“
Die Armee vertreiben
Dass jeden Sommer Horden von Kühen und ein bisschen weniger Ziegen auf entlegene Wiesen in die Alpen verschoben werden, hat für die Besitzer der Viecher, grösstenteils Bauern, vor allem wirtschaftliche Gründe: Erstens können sie in dieser Zeit ihre Weiden heuen, also Futter ernten, zweitens haben sie am Ende des Sommers kiloweise begehrten Alpkäse, und drittens erhalten sie vom Bund für jede Kuh oder Ziege, die die Bergwiesen abgrast und mit ihren Fladen zuscheisst, Subventionen. Denn die grasenden Vierbeiner garantieren mit ihrem natürlichen Dünger, dass die Alpweiden auch im nächsten Jahr spriessen. Und sie helfen zudem, die Lawinengefahr einzudämmen. Der Schnee rutscht auf abgegrasten Weiden weniger schnell.
Der Lohn, den ein Alpteam von der Alpgenossenschaft bekommt, stammt von den rund achtzig Millionen, mit denen der Bund die Alpbewirtschaftung jährlich subventioniert. Viel Geld ist es nicht, für das man sich dort oben abrackert. Als in den Achtziger Jahren bewegte Linke aus den Städten anfingen, z’Alp zu gehen, trafen sie zwischen Himmel und Kühen nicht nur auf eine sich dort austobende Armee. Sie erfuhren auch am eigenen Körper, was schlecht bezahltes Abrackern heisst. So fing man bald an, sich auf der Alp zu organisieren.
Auf dem ersten Flugblatt stand:
„Werthe Alpknechte und –mägde. Gewiss schon lange thät es Noth dass von Bärg zu Bärg sich die Verdingten sammellen und zusammenstünden gegens Unrächt wo die Herren sinnen.”
Wir laden euch – einige interessierte UnterländerInnen – ein zu einer ersten Sitzung mit Nachtessen. Mittwoch 10. Februar 1988 19.00 Ankerstrasse 20, Zürich.
Wir stellen uns vor, dass neben Anekdoten aus dem abenteuerlichen Alpdasein folgende Fragen etwas zu reden geben:
1. Welchen Beitrag können wir leisten zur nationalen Kampagne der AntiAKW-Organisation gegen die geplanten Pumpspeicherbecken?
2. Wie können wir die Armee von den Alpen vertreiben?
3. Besteht das Bedürfnis nach einer Gewerkschaft Chäs&Chalb?
4. Gibt es andere Möglichkeiten, bessere Löhne und Arbeitsbedingungen durchzusetzen?
5. Wie stellen wir uns zu den Machenschaften von landwirtschaftlichen Schulen und Kontrollstellen?
Die Bauern hatten keine Freude, und auch die Presse zeigte sich damals empört ob den frechen Forderungen dieser Zürcher. Aber dem Aufruf folgen rund vierzig junge z’Alp-GängerInnen aus dem Unterland an die Ankerstrasse. Noch im selben Sommer erhellen die ersten Warnfeuer die Alpen. Ein halbes Jahr später erscheinen zu einem Treffen in Chur bereits 250 TeilnehmerInnen. Anstatt einer Gewerkschaft gründen sie das Alparchiv. 1990 die erste Resolution zu den Alplöhnen, beim Treffen zwei Jahre später stehen nebst den Löhnen auch die Fichen auf der Traktandenliste. Selbst auf 1700 Metern Höhe galt es, die WiderständlerInnen zu kontrollieren.
Playboy” auf der Toilette
Heute gibt es anstatt des Alparchivs die IG Alp. Die Armee ist in den Alpen zwar nicht mehr so präsent wie noch vor 10 Jahren, aber wo sie ballert, verrostet nach immer Munitionsschrott auf den Weiden. Mit dem alljährlichen Feuer in den Bergen kämpfen ÄlplerInnen, unterstützt von Umweltschutz- und anderen Organisationen, nimmermüde für den Schutz der Alpen. Und gegen den stetig wachsenden Transitverkehr auf der Strasse.
Auch das Käsen ist nicht mehr das, was es einmal war. Die EU und ihre Normen sind bis in die Alpkäsereien vorgedrungen, da gibt es jetzt neue Hygienevorschriften. Nicht alle Käsereien konnten den Anforderungen genügend saniert werden, etliche gibt es deshalb nicht mehr. Käseliebhaber fürchten, dass es noch schlimmer kommt und dereinst auch der Alpkäse – jeder im Geschmack einzigartig, jeder eine Delikatesse – aus Hygienegründen standardisiert wird, wie das beim Berg- und Talkäse mittlerweile der Fall ist.
Im Nanztal hat die Veränderung auch bereits stattgefunden: Eine tadellose, blitzblanke Käserei hat den Kessel über dem Feuer ersetzt, Gummistiefel sind im klinisch weissen Kachelraum obligatorisch, Dreck eine Katastrophe, und ohne Protokollführung geht gar nichts mehr. Und von wegen Wonne, Romantik, Abgeschiedenheit: Verschwitzte Wandersleute setzen vor der Hütte die Thermosflasche an,
vom Simplon her kommen Biker den Schotterweg heruntergeflitzt und in der Toilette liegt ein „Playboy“.
Mit den BesucherInnen aus der Stadt, die soeben daran sind, die einzige Flasche Rotwein leer zu kippen. muss man über Bush diskutieren. Thomas‘ Handy klingelt diesen Abend jetzt auch schon das dritte Mal. Und weil es noch vor dem nächsten Sonnenaufgang der Wecker sein wird, der klingelt, und auch Tag 75 nicht weniger anstrengend sein wird als Tag 74, 73, 72 oder 71, vergisst der Senn den Sternenhimmel und die mächtigen Bergspitzen rundherum zu bestaunen.
“Ich bin zum Tier geworden hier oben”, sagt Chrigel
Ich bin zum Tier geworden hier oben sagt Chrigel. Er meint dies nicht spirituell. Und ein Stierennacken ist das auch nicht, auf dem sein Kopf ruht. Nein, der 44-Jährige will damit nur einfach sagen, dass ob der Schufterei und der Verantwortung, die er als Chef der Alp trägt, nicht mehr viel Platz für Genuss, Sinnlichkeit, Sentimentalität und Gefühle bleibt. Oder wohl eher: Gar keinen mehr. Chrigel rechnet. Er schätzt, dass für die vierzig Kühe, die auf seiner Alp grasen, düngen, Milch abgeben, am Ende eine Entschädigung von rund 30’000 Franken zusammenkommen sollte. Geteilt durch vier ergäbe das einen Monatslohn von rund 2500 Franken pro Person. Aber auf Chrigel Seifferts Alp gibt es keinen Lohn.
Kein Lohn
Ins Forum auf der Alp-Website www.zalp.ch schrieb er im letzten Winter: „Manche von uns ÄlplerInnen starten ihre Bergkarriere unter anderem aus der Suche nach alternativen Lebensformen heraus und finden sich als Selbstausbeuter wieder. (…) Aus meiner Sicht gibt es jedoch zumindest einen Ausweg, um die verschiedenen Ansprüche (Selbstbestimmtes kollektives Arbeiten auf der Alp, etwas Beschaulichkeit in “freier Wildbahn”, und der Wunsch nach einer gerechteren, besseren Welt) zusammenzuführen: “Verzichten wir ganz auf’s Geld!“ Seine Vision ist, das ganze Geld unterstützungswürdigen Projekten zugute kommen zu lassen. Thomas und Doris konnten sich mit dieser Idee anfreunden. Sie essen gratis, ihre Anreise ist bezahlt, ebenso Miete zuhause und Krankenkasse. Das wär’s. Thomas spendet seinen Lohn an ein Spitalprojekt in Kambodscha. Doris konnte sich noch nicht entscheiden. Chrigel selber unterstützt einen tibetischen Jungen mit kaputtem Rücken, den er auf einer seiner Tibet-Reisen kennen gelernt hatte. Das selbstlose Vorhaben ist eine Ausnahme. Und ein Luxusmodell. Thomas kann es sich deshalb leisten, weil ihn seine Firma die etlichen Überstunden kompensieren lässt,
und Chrigel weiss schon jetzt, was ihn nach seiner Heimkehr nach Winterthur alles für Jobs erwarten werden.
Auf dem alten, vergilbten Papier, das in der Alphütte im Nanztal an der Wand hängt, steht ein zweiter Teil. Geschrieben hat ihn John Tyndall ein englischer Physiker und Alpinist, im Jahre 1875. „Sicher ruht eine moralische Kraft im Sauerstoff der Berge, wie eine unmoralische in den Ausdünstungen der Sümpfe, und eine edlere Kraft, als nur die rein tierische ist latent im Hammelfleisch der Alpen. Wir erkennen immer mehr den Einfluss der physischen Elemente auf unser Leben, denn wenn das Blut in einem reineren Luftstrome rolle, so ist das Herz für alles Schöne empfänglich … Geist und Materie durchdringen sich; die Alpen veredeln uns ganz und wir kehren als klügere und stärkere Menschen von ihren Abgründen nach Hause zurück.
Recht hat er: Wir betrachten die Kühe und ihre Sekrete fortan mit anderen Augen, wir spielen beim Alpkäse-Essen munteres Kräutererraten und wenn der Wecker um acht Uhr in der Früh klingelt, fluchen wir nicht mehr, sondern gedenken der Bergler, die schon seit vier Stunden auf den Beinen sind. Ganz bestimmt aber wird man uns im nächsten Sommer am Meer und nicht in einem Kuhstall finden.